flechten – sie wissen nichts von der zeit und haben doch einen weiten horizont
das erste mal begegnete mir die flechte in meinem garten,
kleine feenbecher auf totholz
die flechten vordergründig unscheinbar
und dann,
plötzlich da in ihrer ganzen vielfalt:
auf steinen fest verankert, weit oben, da wo fast keine pflanzen mehr wachsen, in den wäldern auf bäumen eng anliegend oder schwebend, in steinmulden, nach dem regen – glibberig tiefschwarz
ich entdeckte die exotische welt der flechten mit ihren farben
braun, orange, tiefrot, rosa, olivgrün, blaugrün, grau
manchmal matt und manchmal leuchtend
aus einem oder mehreren pilzen und grünalgen bilden sie geschichtet etwas drittes,
nicht pflanze, nicht tier
erst aus einer symbiose bildet sich die flechte
die alge kann im sonnenlicht das kohlendioxid aus der luft filtern, in sauerstoff verwandeln und produziert dabei nahrung für den pilz
der pilz schützt die alge vor austrocknung
für den menschen war dieses gewächs nahrung, heilmittel und wertvoller farbstoff
für rentiere ist sie futter, für vögel nestmaterial
der weltenbürger mit seinen über fünfundzwanzigtausend arten bemüht zu recht superlative:
sechshundert millionen jahre alte flechtenfossilien wurden in südchina gefunden
in guten jahren wächst dieses mischwesen etwa einen millimeter
bei trockenheit verfällt die flechte in eine ruhestarre, verlangsamt das wachstum
sie kann so über viertausendfünfhundert Jahre alt werden
sie flog sogar aussen an der kapsel befestigt in den weltraum und überlebte die intensive strahlung
diese irdischen bewohnerinnen brauchen reine luft, sonst verschwinden sie
mit ihnen teilen wir licht und luft
keiner wächst für sich alleine
so wurden diese poetischen doppelwesen für mich zu einem sinnbild
sie wissen nichts von der zeit
und haben doch einen weiten horizont
sibylle winkelmann april 2021


buchmesse i never read.
art basel
11 x 31 cm
